Leseprobe zu "Ebers Ende"

Prolog

 

Es ist sternenklar. Die Grashalme zittern hin und wieder in der fast windstillen Nacht. Der Mond pinselt seine bleiche Farbe an den Himmel. Die Konturen von Feldern, Wald und Horizont fließen ineinander, als wären sie mit einem Weichzeichner behandelt worden. Schon den ganzen Tag lang liegt der Gestank von Gülle über den Äckern, aber erst jetzt, mit den geschärften Sinnen der Nacht, nimmt sie den Geruch bewusst wahr. Irgendwo ist das Fauchen eines umherstreunenden Katers zu hören. Am Waldrand raschelt es.

 

Er geht ohne nachzudenken. Die Abkürzung durch den Wald findet er auch im Dunkeln. Die Kälte spürt er nicht. Obwohl der Alkohol seinen Körper etwas wanken lässt, fühlt er sich klar wie selten. Das Gerede der anderen an der Theke ist ihm zum Schluss gewaltig auf die Nerven gegangen, und er war froh rauszukommen. Aber er hat wenig Lust, nach Hause zu gehen. Er sieht das Gesicht seiner Frau vor sich, diesen Blick, aus dem in letzter Zeit nur noch Verachtung spricht. Und wieder packt ihn diese dumpfe, ohnmächtige Wut.

  

Ihre Füße schmerzen. Zwischen dem Klackern ihrer Absätze auf dem Asphalt meint sie, ihren Herzschlag zu hören, und plötzlich spürt sie den starken Drang zu laufen. Aber sie zwingt sich, gleichmäßig zu gehen und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Die Stille ist unheimlich. Seitdem sie das Dorf verlassen hat, ist ihr kein Auto begegnet. Ein Buswartehäuschen taucht in ihrem Blickfeld auf. Dahinter liegt ein kleines Waldstück, durch das schwach die Lichter eines Bauernhofes glimmen.

 

Seine Finger krallen sich in der Hosentasche um das Jagdmesser, das er immer bei sich trägt. Der Griff aus Hirschhorn drückt sich in die Innenfläche seiner Hand. Er zieht an der Zigarre, aber sie will ihm jetzt nicht schmecken. Er hat es immer gewusst, die Thekenkameraden sind nichtsnutzige Idioten. Saufen und Sprüche machen – das können sie. Aber ein Kerl muss mehr können als dumm rumlabern. Ein Kerl muss handeln. Und die armseligen Figuren dort im Zelt? Nichts als heiße Luft. Dabei haben sie sich doch fast die Augen aus dem Kopf gestiert, als dieses Flittchen getanzt hat, einer gieriger als der andere. Er holt das Messer aus der Tasche und lässt die Klinge auf- und zuschnappen.

 

Sie horcht. Ist da ein Keuchen zu hören oder ist es nur ihr eigener rascher Atem? Sie dreht sich nach allen Seiten um. Ihre rechte Faust umschließt unwillkürlich den Schlüsselbund, den sie in der Jackentasche trägt. Sie bleibt stehen und hält den Atem an, horcht. Alles scheint ruhig. Im Weitergehen zuckt sie zusammen. Auf dem Hof hinter dem Wald schlägt ein Hund an, ein kurzes, trockenes Bellen. Ein nervöses Lachen entfährt ihr und sie atmet geräuschvoll weiter.

Die erleuchtete Bushaltestelle liegt kurz vor ihr. Die Plexiglasscheiben sind zerkratzt und vollgeschmiert wie ein missbrauchtes Schwarzes Brett.

 

Langsam tritt er aus dem Schutz der Bäume heraus und horcht. Von links nähert sich das klickende Geräusch von Absätzen auf dem Asphalt. Er schnuppert. Noch ehe die Silhouette eines Menschen auftaucht, steigt ihm dieser Geruch in die Nase, ein süßlicher Geruch von einem billigen Parfüm. Er spuckt ein paar Tabakkrümel aus und leckt sich die Lippen. Dann tritt er zurück in den Wald. Der Hund auf dem Nachbarhof bellt. Rombergs Hund. Romberg, der geölte Lackaffe, auch so ein elender Schwätzer. In letzter Zeit kommt er auffällig oft zu Besuch, und dann diese Scheißfreundlichkeit. Seit langem schon fragt er sich, was die zu bedeuten hat. Romberg war es doch auch, der dieser verdammten Schlampe am längsten auf den Hintern gestarrt hat. Ein Weiberheld war der schon immer. Aber Romberg und seine Frau? Kann das sein? Würde sich jemand freiwillig mit seiner abgetakelten Alten einlassen? Ein verächtliches Schnaufen entfährt ihm. Er zieht die Mütze tief ins Gesicht. Seine Hand tastet wieder nach dem Messer.

 

Auf Höhe der Bushaltestelle beginnt sich ihr Atem zu beruhigen. Plötzlich knacken Zweige, und ehe sie wieder nach dem Schlüsselbund greifen kann, bricht eine Gestalt aus dem Wald heraus. Sie will schreien, doch eine grobe, schwielige Männerhand presst ihr den Mund zu. „Keinen Mucks! Und dreh dich bloß nicht um.“ Metall blitzt auf und etwas Spitzes, Kaltes legt sich an ihren Hals. Eine beängstigende Kraft liegt in diesen Händen. Die Hände stoßen sie in das Wartehäuschen hinein, zwingen sie, sich auf die Bank zu knien. Ihr Gesicht wird hart gegen die Plexiglasscheibe gestoßen, Blut läuft ihr aus der Nase. Sie ist unfähig, sich zu bewegen. Die Hand riecht nach Nikotin. Der Hund auf dem Bauernhof schlägt wieder an. Irgendwann splittern die Neonröhren, ein feiner Glasregen geht auf sie nieder, und um sie herum wird es dunkel.

 

Ein Glassplitter ist unter seinen Hemdkragen gerutscht. Als er seine Hand auf die Stelle drückt, ist sie voller Blut. Er nestelt nach einem Taschentuch. Unbeholfen bringt er die Blutung zum Stillstand. Sein weißes Hemd, das Jackett und die helle Sommerhose sind voller Blutflecken. Er flucht und schleudert den Stein, mit dem er das Licht gelöscht hat, mit voller Kraft in den Wald. Das Messer schiebt er in die Hosentasche zurück. Ohne sich noch einmal umzusehen, geht er davon, zügig, aber ohne Hast. Immer noch presst er das blutige Taschentuch gegen die Wunde. Er spürt keinen Schmerz. Schweiß läuft ihm in den Nacken und trotzdem ist ihm kalt. Er schlägt den Kragen seines Jacketts hoch. Sein Mund füllt sich mit einem komischen Geschmack. Er hat das Gefühl, dass er seine Wut heruntergeschluckt, aber noch lange nicht verdaut hat.

  

Sie schließt die Augen. Ein gleichmäßiges Rauschen umgibt sie. Sie befindet sich in einer Luftblase. Die Außenwelt ist ausgesperrt. Da ist die Ostsee, ein graues Band an einem verregneten Sonntag, der menschenleere Strand, und da ist sie, gebückt gegen den Sturm, der an ihren nassen Haaren zerrt, und da ist er, der weit vorausläuft und nur noch als Punkt erkennbar ist, ihr Freund, und der Wind bläst ihr mit solcher Macht ins Gesicht, dass sie keine Luft bekommt, und ihre Lippen werden rissig und schmecken nach Salz, und da sind die Möwen mit ihren heiseren Stimmen, und eine der Möwen taucht tief ein ins Meer und taucht wieder auf, schießt nach oben, immer wieder, und sie ruft nach ihrem Freund, aber der ist weit weg und kann sie nicht hören, und sie will laufen, aber ihre Absätze bleiben stecken im aufgeweichten Sand und sie kommt nicht von der Stelle, und dann sieht sie in der Ferne den Hof, den verfallenen Hof mit seinen alten Mauern, und der Sturm wird heftiger und fegt über die Gebäude hinweg, deckt die Dächer ab und reißt die Mauerreste ein, und Wolken von Staub und Dreck hüllen sie ein, bis alles schwarz wird und sie endlich ganz in der Dunkelheit verschwindet.

 

Alle paar Meter spuckt er aus. Er hat noch Lust auf einen Absacker, aber ins Zelt kann er nicht mehr zurück. Die Klamotten sind hin, daran ist diese Schlampe schuld. Er muss die Sachen unauffällig loswerden. Hauptsache, es sieht ihn so niemand. Aber das ist unwahrscheinlich. Bis zum Hof sind es nur noch ein paar Minuten, und seine Frau erwartet ihn nicht. Wahrscheinlich weiß sie nicht einmal, dass er weg war. Kein Mensch vermisst ihn. Was soll´s. Immer noch dieser verdammte Geschmack im Mund. Den wird er einfach nicht los. Da kann er ausspucken, soviel er will.

 

Sie sitzt auf der Bank des Wartehäuschens, und ihr Körper zittert vor Kälte, doch es ist eine Kälte, die den Kopf nicht erreicht. Sie hat die Beine angezogen und hält ihre Knie eng umschlungen. Ihr Make-up ist zerlaufen, verkrustetes Blut klebt unter der Nase. Ihre Bluse ist zerrissen, der Kragen blutverschmiert. Ihr Körper wiegt vor und zurück, immer wieder, wie einem inneren Rhythmus folgend, aber sie spürt die Bewegung nicht. Sie hört nichts mehr, und in ihr ist eine vollkommene Leere. Sie ist jetzt nur noch Körper, nichts weiter als ein hohles Gefäß, dessen Inhalt jemand ausgeschüttet hat. Und was da geschehen ist, das ist nichts als eine dumpfe Erinnerung, nur ein verschwommener Schwarzweißfilm, der in einem leeren Kino abgespielt wird, ohne Inhalt, ohne Ton. Ein Film, der nichts mit ihr zu tun hat, in dem sie nur eine stumme Beobachterin ist, still und unbeteiligt.

 

Die Plexiglasscheiben des Buswartehäuschens sind beschlagen. „Freibier für alle“, hat jemand dort hingekritzelt. Ein zerfledderter Anschlag wirbt für ein Nachttaxi. Glassplitter bedecken den Boden, dazwischen liegt ein kalter Zigarrenstummel. Der Mann hat irgendwann den Mantelkragen hochgeschlagen und ist gegangen, wortlos und ohne Eile. Mit der größten Selbstverständlichkeit, wie einer, der seine Arbeit erledigt hat.

 

Ein alter Opel mit polnischem Kennzeichen rast Richtung Dorf. Er fährt an ihr vorbei. Der Wagen hat ein defektes Rücklicht. Ihr wird schlecht, und ihr Mund füllt sich mit Erbrochenem.

Erinnerungen sind ein Marschgepäck, das die Schritte verlangsamt und die Standfestigkeit erhöht.

Aus dem Erzählungsband "Aufbrüche"